Der Alltag anderer ist ihr
Beruf: Einblicke in die stationäre Jugendhilfe
04.04.2022 Kinder- und Jugendhilfe
Elisabeth Eberl hat Sozialpädagogik (heute: Soziale Arbeit B.A.) studiert und arbeitet seit über 30 Jahren in ihrem Beruf – bei ganz verschiedenen Einrichtungen oder Trägern. In der stationären Jugendhilfe ist sie seit 2013 tätig, ins Wohnheim in Landshut wechselte sie vor dreieinhalb Jahren. Dort betreut sie Jugendliche, die eine Ausbildung machen und im Rahmen der Jugendhilfe eine individuell abgestimmte Betreuung erhalten. Die Jugendlichen in ganz vielen verschiedenen Situationen zu erleben, ist ihr besonders wichtig.
Warum haben Sie sich für einen Beruf in der Kinder- und Jugendhilfe entschieden?
Mir ist die Arbeit mit Menschen wichtig. Es ist tatsächlich dieser Gedanke, jeden Tag etwas Sinnvolles zu tun, auch für die Gesellschaft: Die Jugendlichen von heute sind die Erwachsenen von morgen. Bei uns im Wohnheim stammen viele aus Familien mit sozialen Problemen oder haben schlechte Erfahrungen gemacht und brauchen von uns Unterstützung, um später in der Gesellschaft zurechtzukommen. Das motiviert mich. Und ich fand schon immer diesen Übergang vom Heranwachsenden in das Erwachsenenleben spannend. Weil sich da noch mal ganz viel bewegt und ich durch meine Arbeit viel bewirken kann. Die Beziehung, die ich zu den Jugendlichen aufbaue, hilft ihnen dabei, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Zu sehen, dass sie sich durch mein Handeln persönlich weiterentwickeln und ändern, freut mich auch nach 30 Jahren Berufserfahrung immer wieder.
„Für die Jugendlichen ist das Wohnheim wie ein Zuhause, und ich bin als Bezugsperson wie eine enge Vertraute.“
Aus welchen Gründen hat Sie speziell die Arbeit im Wohnheim angesprochen?
Bereits im Studium habe ich mich schwerpunktmäßig mit dem Thema Jugendhilfe beschäftigt. Die Jugendlichen bei den Schritten in die Selbstständigkeit zu begleiten und ihnen Stabilität zu vermitteln, gehört zu meinen zentralen Aufgaben. Das ist gleichzeitig auch die größte Herausforderung, denn jede oder jeder Einzelne braucht etwas anderes von mir. Der Vorteil an der Arbeit in der stationären Jugendhilfe beziehungsweise im Wohnheim besteht darin, dass ich sehr nah an den jungen Leuten und deren Alltag dran bin. Ich bekomme mit, wenn es ihnen schlecht geht oder sie sich zurückziehen, und kann darauf eingehen. Für die Jugendlichen ist das Wohnheim wie ein Zuhause, und ich bin als Bezugsperson wie eine enge Vertraute.
Welche typischen Aufgaben haben Sie als Sozialpädagogin im Wohnheim?
Ein Tag im Wohnheim verläuft so, dass wir die Jugendlichen den ganzen Tag begleiten – vom Aufstehen bis zur Schlafenszeit. Die Betreuung ist ganz unterschiedlich: Manche, die zu uns kommen, sind relativ selbstständig was Alltagsdinge betrifft, haben aber psychische Probleme wie beispielsweise Bindungsängste. Dann bespreche ich mit den Jugendlichen, wie sie damit umgehen können und versuche herauszufinden, welche Rolle die Familie dabei spielt. Bei Bedarf lade ich auch die Eltern oder ein betreuendes Elternteil ein und wir schauen uns die Situation gemeinsam an – alles natürlich immer im Einverständnis mit den Jugendlichen. Ich setze mich außerdem mit ihnen zusammen, um gemeinsam persönliche Ziele zu vereinbaren, beispielsweise für ihre Ausbildung. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie diese Ziele nicht aus den Augen verlieren – auch wenn es mal schwierig wird.
Bitte beschreiben Sie Ihren Weg zur Qualifikation als Sozialpädagogin. Wie war das?
Mein Weg in den Beruf war recht geradlinig, da ich schon als Jugendliche wusste, dass ich im sozialen Bereich arbeiten möchte. Das zwischenmenschliche Agieren und sich Begegnen hat mich schon immer interessiert. Nach meinem Abitur habe ich ein Soziales Jahr in einem Kindergarten absolviert und danach vier Jahre studiert. Meine erste Stelle bekam ich dann im Jugendamt, wo ich auch mein Jahrespraktikum im Studium absolviert hatte. Da war ich 24 Jahre alt.
Inwiefern unterscheidet sich das Arbeiten im Wohnheim von anderen Bereichen in der Kinder- und Jugendhilfe?
Ich habe die meiste Zeit meines Berufslebens in diesem Bereich gearbeitet – bis auf die sechs Jahre im Jugendamt. Der Unterschied zu meiner jetzigen Arbeit besteht darin, dass ich im Jugendamt nur punktuell mit den Menschen zu tun hatte: Ich habe bei akuten Problemen geholfen, aber ich war nicht so stark in das Leben der betreuten Personen involviert. Beim betreuten Wohnen für Jugendliche geht es genau darum: Am Leben der Jugendlichen teilzuhaben und gleichzeitig ein wichtiger Teil in ihrem Leben zu sein. Während ich im Jugendamt also immer an bestimmten Themen der Kinder und Jugendlichen gearbeitet habe, mit beispielsweise erzieherischer Hilfe oder der Jugendgerichtshilfe, geht es jetzt eher darum, mich auf die Persönlichkeiten und Bedürfnisse in der jeweiligen Lebenssituation der Personen einzustellen.
„Zu den schönsten Augenblicken gehört, wenn ich spüre, dass sich mein Gegenüber öffnet und Vertrauen zu mir fasst.“
Was sind im Alltag Momente, in denen Sie sagen: Genau deswegen mache ich das?
Mir persönlich sind kleine Momente besonders wichtig: Wenn ich merke, jetzt baut sich eine Beziehung auf. Das ist nicht selbstverständlich, weil viele der Jugendlichen genau damit große Probleme haben. Zu den besonderen Augenblicken gehört, wenn ich spüre, dass sich mein Gegenüber öffnet und Vertrauen zu mir fasst. Das zu erleben, ist sehr schön. Oder auch wenn Jugendliche gestärkt aus der gemeinsamen Zeit hervorgehen und mir signalisieren: Das hat mich weitergebracht. Das bedeutet mir viel, weil es zeigt, dass ich durch meine Arbeit etwas Positives bewirken kann.
Welche Eigenschaften sollte man für die Arbeit in der Jugendhilfe aus Ihrer Sicht mitbringen?
Man sollte sich in andere Menschen hineinversetzen können und sich für deren Träume und Wünsche interessieren. Es geht wirklich darum, zu schauen: Was ist das für ein Mensch? Und nicht die eigenen Vorstellungen auf den anderen zu übertragen. Man muss sehr flexibel und geduldig sein. Und humorvoll: Manchmal gelingt es, durch einen Spaß eine angespannte Situation zu lösen. Durchhaltevermögen und eine große Frustrationstoleranz sind auch hilfreich. Man sollte aber auch Spaß daran haben, mit den Jugendlichen zum Ausgleich gemeinsam etwas zu unternehmen, wie Klettern, Bouldern gehen, Ski fahren oder ähnliches. Das schafft nicht nur Vertrauen bei den Jugendlichen, es bereichert auch meine Arbeit als Sozialpädagogin; denn häufig lerne ich bei Freizeitaktivitäten die Jugendlichen von einer anderen Seite kennen.
Welchen Herausforderungen begegnen Sie in Ihrem Job und wie gehen Sie damit um?
Ich habe gelernt, gleichzeitig emotional dabei zu sein und genügend Distanz zu haben, um handlungsfähig zu bleiben. Ich versuche, den Jugendlichen authentisch zu begegnen. Das bedeutet, dass ich mich als Person einbringe und professionell handle. Diese Mischung hinzukriegen, ist eine besondere Herausforderung, weil die Jugendlichen dafür ein besonderes Gespür haben. Sie merken ganz schnell, ob man Fachwissen runterspult oder als Person engagiert ist. Das andere ist, dass die Entwicklung der Jugendlichen ja nicht immer geradlinig verläuft, sondern eher einer Berg- und Talfahrt gleicht. Ich bin ständig in Bewegung, schaue, wo der oder die Jugendliche steht, und passe mein Handeln an die individuellen Bedürfnisse an. Ich bin immer voll und ganz für die Jugendlichen da – das kostet manchmal ganz schön Kraft. Aber ich mache das nach wie vor sehr gerne, weil es toll ist, zu sehen, wie Jugendliche ihren eigenen Weg finden. Ich stecke viel Herzblut in meinen Beruf als Sozialpädagogin und habe mich aus Überzeugung dafür entschieden.
„Die Jugendlichen merken ganz schnell, ob man Fachwissen runterspult oder als Person engagiert ist.“
Welche Rolle spielt das Thema Weiterbildung?
Weiterbildung spielt eine große Rolle. Es gibt viele Möglichkeiten sich zu schulen, sei es im Bereich der systemischen Arbeit oder zu anderen Themen wie Flüchtlings- und Integrationshilfe oder Familienorganisation und Beratung. Weiterbildungen bereichern die eigene Arbeit. Sie verhindern, dass man sich zu sehr in seiner eigenen Welt verliert und betriebsblind wird.
Wie wichtig ist Teamwork in Ihrer Arbeit?
Teamwork ist sehr wichtig bei uns. Das hat zum einen organisatorische Gründe: Wir können nicht immer alle rund um die Uhr anwesend sein, deshalb ist es ganz wichtig, dass wir uns austauschen und abstimmen. Und auch alle Informationen dokumentieren, sodass jeder handlungsfähig ist. Wir vertreten uns gegenseitig in den Urlauben oder auch mal spontan, wenn Termine dazwischenkommen. Die andere Seite ist der fachliche und persönliche Austausch im Team: Wir sind ein sehr gemischtes Team und verstehen uns alle sehr gut. Das Tolle an meinem Beruf ist, dass ich mich auf meine Kolleginnen und Kollegen verlassen kann, dass wir uns gegenseitig beraten und unterstützen. Durch den Rückhalt und das Miteinander fällt die Arbeit leichter. In einigen Fällen ziehen wir auch Psychologinnen und Psychologen oder Therapeutinnen und Therapeuten hinzu. Da haben wir ein kleines therapeutisches Netzwerk aufgebaut.
Was ist in Ihrer Freizeit der perfekte Ausgleich zum Job?
Die Natur: Wenn ich draußen bin, erhole ich mich am besten. Das kann der eigene Garten sein oder Spaziergänge: Einfach nur frische Luft, Sonne, Bäume – da tanke ich auf. Oder Lesen, Musik hören, Freunde treffen.
Was möchten Sie persönlich den Jugendlichen in Ihrer Einrichtung mit auf den Weg geben?
Es lohnt sich zu kämpfen und seinen Weg zu gehen. Egal wie schwierig es bis jetzt war, es gibt immer die Möglichkeit, das eigene Leben selbst in eine positive Richtung zu lenken. Jeder und jede kann etwas dafür tun und etwas ändern. Ich stehe jeden Morgen dafür auf, um Jugendliche dabei zu unterstützen, diese Chance zu ergreifen.